20
Apr
2009
Gast
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Krankheitliche Wahnvorstellungen sind manchmal weniger abwegig als die Wirklichkeit

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Freitag. Eine dieser heimtückischen Frühjahrserkältungen, die in den noch weit verbreiteten, kühlen Schatten auf Opfer lauern,  während alle Menschen sommervorfreudig vergnügt den Sonnenstrahlen hinterher springen und der eine oder andere (oder eben ich) die Schattenkühle streiften, so ein Erkältungsmonster biss sich hinterhältigerweise an mir fest. Zu diesem Zeitpunkt merkte ich das jedoch nicht und war sehr naiv glücklich. Das sollte sich aber innerhalb zweier Tage grundlegend ändern: es kippte regelrecht. Der Schleimauswurf fuhr rasant auf einen neuen Jahresrekord hoch, der Kopf veränderte sich zum Resonanzverstärker gemeiner Umwelteinflüsse, der Druck hinter der Stirn erhöhte sich zusehens, infolgedessen bildete sich ein großes Loch, aus dem alle Gedanken purzelten, deren freiwerdende Stellen durch komische Realitätswahrnehmungen eingenommen wurden. Die Glieder erschlafften zusehens und weigerten sich mehr und mehr, Aufgaben der Fortbewegung oder Manipulation der Umwelt zu übernehmen, kurz gesagt fühlte ich mich 48 Stunden später dermaßen mies, dass ich mir vorstellte, seekrank auf der untergehenden Titanic zu sein wäre immer noch besser als dieser Zustand hier. Ich wusste nicht, ob ich leben oder sterben sollte.

Unter dem Eindruck verschiedener Pharmazeutika in Tablettenform zur Herabstufung der Wahrnehmung entschied ich mich in der Nacht zum Samstag für weiterleben. Doch schon Samstag früh bereute ich diesen Entschluss bitterlich, als ich begraben unter einem Berg benutzter Zellstofftaschentücher verzweifelt versuchte, ein Telefonat ohne Stimme zu führen. Als wenn das nicht schon genug wäre, versauten mir plötzlich auftretende Niesanfälle auch noch meine frisch angelegte Tageskleidung für die Couch, und verunstalteten eben jene mit diversen Rotzflecken, die teilweise aussahen wie wild verteiltes Sperma nach einem Superorgasmus.

Gemeinerweise lockten die von draußen hereinschleichenden Sonnenstrahlen dazu, ihnen zu folgen, und die Sehnsucht nach frischer Luft keimte immer wieder zwischen einzelnen Nies- und Hustenattacken. Der Fernseher quälte mich zusätzlich mit unsagbar schlechten Zelebrationen des faden Geschmacks grauer Unterhaltungssendungen, die bei ihrer Erstausstrahlung schon alt, verschrumpelt und dröge wirkten, Tagträume vermischten damit und so entstand ein ausgesprochenen zäher Brei samstagnachmittäglicher Langeweile. Hatte ich mich wirklich falsch entschieden?

Am sich dem Ende zuneigenden Samstag entwickelte sich jedoch unerwartet positiv bezüglich der Langeweile, jedoch negativ in Bezug auf das Nervenkostüm. Eine Armee kleiner sechsfüßiger Soldatinnen versuchte meine Küche zu erobern. Was zunächst ganz unauffällig mit einigen Kundschaftern zwischen Wandleiste, Spüle und Kühlschrank begann, wuchs sich zu einem richtigen Krieg aus. Taktisches Vorgehen gehen pure Gewalt: Ameisenarmee brandete in Wellen aus allen Richtungen auf mein Küchenmobilar ein, dagegen stand nur die unbändige Kraft meines Daumens, mitunter auch der gesamten flachen Hand, die Wellen zu stoppen. Es gab wirklich viele Tote, Verletzte, Verstümmelte... und Deserteure, die feige versuchten, wieder in das Loch zu kriechen, aus dem eben noch aberhunderte Ameisen sich zur Annexion meiner Vorräte formierten.

Nach einiger Zeit, die Sonne war längst untergegangen und die Zellstofftaschentuchbox mittlerweile leer, ebbten die Angriffswellen ab, versprengte Einzelkämpfer (oder isolierte Grüppchen) suchten Zuflucht unter Wasserkochern, Mikrowellen, schmutzigen Tellern, Blumentöpfen oder Weinflaschen. Meine Energie versteckte sich irgendwo ganz weit peripher im großen Zeh oder wo auch immer, jedenfalls schwenkte ich die weiße Flagge in Form eines noch sauberen Taschentuches zum Zeichen des Waffenstillstandes (und der Überzeugung, den Feind empfindlich dezimiert zu haben). Kurz darauf schlief ich erschöpft ein, das Schlachtfeld wollte ich am Sonntag säubern, so gelassen konnte ich nach einem so grandiosen, aber resourcehungrigen Krieg schon sein.

Der Sonntagmorgen hielt keine böse Überraschung für mich bereit, nur die Gemeinheit in Form schönsten Wetters da draußen und eines gesäubert werden wollende Arbeitsfläche in der Küche. Von lebenden Soldatinnen keine Spur. Ich freute mich darüber, so grandios gesiegt zu haben, trotzdem nagten ganz kleine Zweifel an mir, dass dieser so hundertprozentige Sieg entgegen der Natur eines Ameisenvolkes errungen wurde. Der Widerspruch löste sich erst am einbrechenden Abend auf: Ameisen scheinen eine eiserne Waffenruhe einzuhalten, um knapp 24 Stunden später mit aufgefüllten Reihen seiner kampfesmutigen Armee eine weitere Schlacht zu schlagen. Aber diesmal ohne mich! Da kein Anführer des Heeres auszumachen war, verhandelte ich mit mir selbst über ein den Ameisen zustehender Raumgewinn, welcher mit Backpulverwällen zementiert wurde. Bei Bau dieses Schutzwalles gegen die feindliche Natur wurde ich zweimal empfindlich zurückgeworfen, da Niesanfälle den soeben fertiggestellten Wall auf viele Zentimeter wieder zerstörte. Nach geraumer Zeit begann ich dann ganz langsam, den von den Ameisen eroberten Raum systematisch zu verkleinern.

Ohne auf weitere Details einzugehen, wir haben jetzt weitere 24 Stunden später wieder eine kritische Lage auf der Küchenfront, die kleinen Biester sind auf der Suche nach alternativen Eroberungsrouten meiner Zuckerdose, ich werde mich wohl dafür entscheiden, einige Vorräte aufzugeben und zusammen mit den Aggressoren aus der Wand dem  Recycling zu überantworten. Dabei fühle ich mich ganz und gar nicht als Sieger, komischerweise eher als Despot in meiner eigenen Wohnung.

Auf der anderen Seite: dank des Schnupfenmonsters konnte ich eine feindliche Übernahme meiner Küche gerade so verhindern, stell dir mal vor, ich wäre das Wochenende wie geplant nicht da gewesen! So muss man doch in allem noch das Gute sehen können.

Gesundheit!