07
Nov
2006
AlexZ
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Deja Vu und andere komische Sachen

ZugMeine durch Urlaubsende verursachte Heimreise gestaltete sich diesmal etwas interessanter als sonst. Das lag vor allem daran, dass ich zwei Stunden auf dem Leipziger Hauptbahnhof totschlagen musste, was übrigens spannender war, als ich zuerst annahm.

Zunächst verweilte ich einige Zeit in einem Bahnhofsrestaurant mit dem großen goldenen "M" im Logo. An einem kleinem Zweiertisch direkt neben dem Eingang sitzend, vor mir ein Pappbecher mit heißer, brauner und geschäumter Flüssigkeit, die eiligen Menschen betrachtend und gerade am überlegen, ob ich meinen Schmöker rausholen und etwas lesen sollte, brummte mich ein zotteliger Typ - unrasiert, ungekämmt, mit abgerissenem Wintermantel, ordentlicher Standarte aus dem zahngelichteten Mund entweichend und Plastiktüte in der Hand - an, ob der Sitz gegenüber noch frei wäre...

Ich nickte ihm zu und er stellte seine ausgebeulte, halb gefüllte Tüte neben dem freien Stuhl ab und ging zum Tresen (wie ich glaubte), ohne Scheu mich darauf hinweisend, dass ich jetzt Obhutspflicht seiner gepackten Utensilien übernehmen würde: Ich sollte auf sein Hab und Gut aufpassen!

Mir egal, heutzutage klaut eh keiner mehr stehengelassene Gepäckstücke auf Bahnhöfen, so konnte sich die kleine Tüte dort doch recht sicher fühlen, ohne von mir bewacht zu werden. Die Minuten vergingen, ich war bereits in mein Buch vertieft, als wieder eine Stimme nach meiner Aufmerksamkeit verlangte. Es war eine Frau, so irgendwas bei 30 oder 40 Lenzen. Es ging um den immer noch freien Stuhl gegenüber. Da mir noch bewusst war, dass bereits ein Typ diesen Stuhl mit Tüte und Inhalt beanspruchte (oder reserviert hatte?) - verneinte ich ihr begehren kurz mit "Nein!" - um schnellstmöglich die Stelle in der Geschichte wieder zu finden, in der es um eine Theorie für die Rettung der Menschheit... na, unwichtig. Sie schaute mich noch ein, zwei Sekunden irgendwie komisch an und ging zu einem anderen Tisch (als wenn der Platz an meinem Tisch der einzige Freie wäre - tsts). Spätestens jetzt konnte ich an der Rettung der Menschheit in meinem Buch gedanklich nicht mehr teilnehmen, denn irgendwie störte es mich jetzt auch, das der gegenüberliegende Platz noch immer nicht von diesem übel riechenden Individuum besetzt war. Allein die Tüte dort harrte aus, als wenn sie wüsste, dass er noch kommt. Ich schaute mich um, der Laden war von hier aus gut übersehbar, jedoch konnte ich denjenigen nicht finden, der nach meiner Erinnerung vor etlichen Minuten eine Reservierung mir gegenüber für den Platz mir gegenüber ausgesprochen hatte. Komisch! Komisch auch, das so ein Student(?), Anfang zwanzig, Brille, Reisetasche, mich halbwegs empört musterte - war es wegen der Frau eben, die ich so mürrisch weggeschickt hatte? Mein Gott, ich bin nicht von hier, mit sächsischer Herzlichkeit konnte ich noch nie viel anfangen.

Ich schaute auf die Plastiktasche und versuchte zu erkennen, was da wohl drin sein könnte. Pfandflaschen? Blechbrötchen? Köm? Ne Granate? Ne Bombe? Ne Atombombe? Man liest und hört ja heutzutage viel von diesen Geschichten...
Jetzt war mir nicht mehr so wohl, eigentlich wollte ich weg. Ich wollte nicht auf seinen Stuhl aufpassen, nicht auf seine Tüte und mich nicht den blicken dieses komischen Menschen vom Nachbartisch aussetzen.

Also ging ich. Allerdings nicht ohne ganz nah am Überlebensbeutel des 'Penners' vorbeizugehen und einen Blick von oben in die Tüte zu erhaschen, um den Inhalt "Atombombe" wenigstens von meiner imaginären Liste streichen zu können.
Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht war oder erleichtert, der Inhalt war einfach nur normal: ein eingeschweißtes Brötchen, etwas Wurst und eine leere Bierflasche konnte ich erkennen.
Egal, weg hier.

Suchen nach dem Bahnsteig. Der Leipziger Bahnhof hat ungefähr zwei Dutzend Bahnsteige, natürlich war meiner am anderen Ende der riesigen Halle.
Ich trottete langsam mit der schweren Reisetasche und noch einer etwas leichteren Tasche langsam und Kraft sparend quer durch den Bahnhof, dabei über den alten, heruntergekommenen Mann mit Tüte sinnierend.

Streckt mir doch plötzlich, so mir nichts dir nichts jemand die Hand entgegen um die Meinige zu schütteln, mit einem strahlen im Gesicht, als kannte er mich noch von der Schule und nun sähen wir uns plötzlich nach zig Jahren wieder.
Mein Handreichungsreflex ist ähnlich gut ausgebildet wie bei Monk, außerdem hatte ich keine Hand so richtig frei. So hing seine Hand einige Sekunden vor meinem Bauch in der Luft. Was IHN in keinster Weise irritierte, fing er doch sogleich an, mir seine Geschichte aufzudrängen: er hätte nur noch achtzig Cent, bräuchte aber ein Euro achtzig für die Fahrkarte, bla blubb bla. - Häh? Deja Vu? Hatte ich da nicht bei Pia mal was gelesen?

Ich konnte mich aber gerade nicht genau erinnern, wie das war. Dann wären mir sicher lustige, witzige oder schlagfertige Antworten eingefallen... So sagte ich nur: 'Da hast du ja mehr als ich.' und ließ ihn stehen. Vielleicht hätte ich ihm eine S-Bahn-Fahrkarte kaufen sollen oder so, aber naja.

Und dann war da noch das kleine Mäuschen von zwölf, dreizehn Jahren, wahrscheinlich von zu Hause weggelaufen und das freie Leben gerade am eigenen Leibe erlebend, welches mir irgendwie ins Ohr piepste, es bräuchte noch den einen oder anderen Euro zum Essen. Komisch vielleicht, aber ich war in Gedanken schon dabei, irgendwas an Kleingeld in meinen Taschen zu suchen, um es Ihr zu geben. Bevor ich das jedoch in die Tat umsetzen konnte, war sie schon wieder weg. Wahrscheinlich waren ihr die zwei Bahnpolizisten, die meinen Standorten gerade passierten, etwas suspekt. Keine Ahnung.

Und dann saß ich im Zug, schaute ins Fenster, in dem ich mich wegen allgemeiner Dunkelheit da draußen spiegelte, und versuchte zu ergründen, ob ich eher einen trotteligen oder gutmütigen Eindruck machte. Irgendwo dran musste es ja liegen, das so wildfremde Menschen mein Vertrauen suchten. Oder es ist halt so, nachts auf dem Leipziger Hauptbahnhof. So oft bin ich da ja nicht.